Eröffnung:
8. August 2010, 11.30 Uhr 

Einführung:
Kerstin Niemann, künstlerische Leitung in Vertretung PaK
Christiane Opitz, künstlerische Leitung PaK 

Die Künstlerinnen Nina Lola Bachhuber und Annette Kisling beschäftigen sich beide mit dem Thema der Serie.
“Die Königin verneigt sich und tötet”, Titel der Einzelausstellung von Nina Lola Bachhuber, zollt Herta Müllers Essay (Der König verneigt sich und tötet, Carl Hanser Verlag, München 2003) Tribut. 1Darin bezeichnet Herta Müllers Onkel, ein Sargschreiner, seine Särge als “Erdmöbel”;  eine befremdliche aber auch tröstende Metapher: Der Verstorbene lebt somit in seinem maßgezimmerten Möbelstück unterirdisch weiter. Befremdliches, Surreales und Metamorphose sind wiederkehrende Themen in den Zeichnungen und Skulpturen Bachhubers.Der Ausstellungstitel bezieht sich auch auf die zentrale Arbeit in der Ausstellung: sechzehn schwarze Stofffahnen die in dem größten Ausstellungsraum im Erdgeschoß an der Wand hängen (Ohne Titel,  2008, Stoff und Haare). Streng minimalistisch in gleicher Stoffgröße, präsentiert sich jede Flagge als Individuum. Die an den Flaggeneinschnitten aufgenähten Haare verleihen jeder Flagge ihren speziellen Wesenszug. Zwischen Abstraktion und Figuration existieren die Flaggen als Mutanten von Lebewesen und Objekten. Als nicht zu fassende Phänomene laden sie den Raum surreal auf.Eine surrealistische Atmosphäre kennzeichnet auch die – oftmals seriellen- Zeichnungen von Nina Lola Bachhuber.
Diese entwickelt Bachhuber kontinuierlich parallel zu ihren skulpturalen Arbeiten. Akkurat gezeichnete, dunkel eingefärbte geometrische, kristalline Formen und geschwungene, sporadisch erkennbare Elemente verdichten sich zu geheimnisvollen Sequenzen. Abstrakte Felder wechseln mit figürlichen Fragmenten; futuristisch anmutende architektonische Gebilde verschmelzen mit phantasievollen, linear gezeichneten organischen Strukturen und Wesen. Bachhuber arbeitet im gleichen Maße mit Zeichnung wie mit Skulptur. Die Zeichnungen sind nicht Studien für die Skulpturen, sondern unabhängige Arbeiten.

Für die Einzelausstellung im Palais für aktuelle Kunst Kunstverein Glückstadt sind großformatige und kleinformatige Arbeiten aus Ihrer Zeichnungsserie Lucy (Lucy, Tinte und Bleistift auf Papier, 2007) zu sehen. Die Präzision der Zeichnungen und die sorgfältig ausgewählte Farbigkeit bilden in ihrer Gesamtheit faszinierende energetische Kompositionen. Sie wirken traumhaft, ähneln einer musikalischen Komposition und vermeiden dabei in ihrer Zusammensetzung und Anordnung eine lineare Abfolge. Eher bebildern sie eine Geschichte einer fragmentierten Wahrheit, einer Aneinaderreihung mystischer, fast unheimlicher mutierter Formationen.

Mutierte Körper, Körperfalten oder (Körper-) Landschaften stellt Nina Lola Bachhuber auch in ihrer achtteiligen Foto- und Textcollage (Ohne Titel, Print, 2006) im Palais zur Schau. Ihrem materiellen Kontext entrissen ähneln die verschieden arrangierten schwarz-weißen Fotos von Fellen sinnlichen Anatomien.  Die so inszenierten Figurationen kombiniert die Künstlerin mit den Klapptexten des Stummfilms „Un Chien Andalou“ von Luis Buñuel und Salvador Dalí. Dieser gilt als Meisterwerk des surrealistischen Films.

Der Wechsel von Abstraktion und Figuration, Perfektion und phantasievoller Mutation zieht sich durch alle Arbeiten Bachhubers. Fasziniert von Oberflächen und Strukturen untersucht die Künstlerin die Fläche als räumliche, materielle und psychologische Grenze, experimentiert mit ihrer Dehnbarkeit, Beeinflussbarkeit, Durchlässigkeit, aber auch ihrer Beschränkung. Obwohl Anspielungen auf Tod und Sterblichkeit omnipräsent sind, wirken die dargestellten Wesen, Organismen und biomorphen Objekte lebendig, geradezu lebhaft –surreal.

1 Bei „Der König verneigt sich und tötet“ handelt es sich nicht um eine Autobiographie im klassischen Sinne. Herta Müller reflektiert ihr Schreiben und ihr Denken im Spiegel ihres Lebens: wie gefährlich es für Regime-Gegner gewesen sein muss, in Rumänien unter Ceausescu zu leben, und wieviel Mut notwenig war, um der Heimat den Rücken zu kehren.

 

Die Einzelausstellung der Künstlerin Annette Kisling im Obergeschoß des Palais für aktuelle Kunst lädt uns ein, scheinbar banale Abbilder aufmerksam zu betrachten.

“Sehen, so lernen wir hier, ist immer auch ausblenden, abblenden, versiegeln. Sehen ist blind sein für das Nichts dahinter.(Stefan Ripplinger)1

Der Impuls der Fotografien von Kisling ist nicht das etwas aufgezeichnet werden soll.  Die Arbeiten wirken dokumentarisch, sind aber keine Dokumentationen. Vielmehr beschreibt die Künstlerin mit ihnen Situationen heutigen urbanen Lebens. Bestimmte architektonische Merkmale, unbestimmte oder periphere Orte werden in ihren Arbeiten isoliert. Die Künstlerin arbeitet meistens in schwarzweiß und organisiert ihre Fotografien in Serien oder Folgen. Die Einzelausstellung im Obergeschoß des Kunstverein Glückstadt zeigt eine Vielzahl ihrer Beobachtungsstudien teilweise als ganze Werke und teilweise als punktuelle Ausschnitte. Annette Kisling stellt unter anderem die Serien „Garten“, „Dünenpark“ und „Hoogstraat“ aus. Diese bilden Flächen, Partien eines einheitlichen Raums ab, die sich gleichförmig ins Unendliche zu erstrecken scheinen. Partien (Partie ist auch der Titel dieser Ausstellung) skizzieren eine nicht lineare Vorstellung von Zeit.

In Ihrer in Paris zusammengestellten Serie „les vitrines“ über Ladenfronten und Fensterpartien macht sich die Künstlerin auf die Suche nach der Wahrnehmbarkeit von Zeit. Sie fragt nicht, wie sich die Zeit in Erinnerung konserviert, sondern wie sich Zeit ganz konkret im Stadtraum widerspiegelt. Die verborgenen Details, die beim Schaufensterbummel nicht auffallen, erhalten in den Fotografien umso mehr Gewicht. Funktionsleuchten bekommen den gleichen Wert wie die ausgestellte Ware, spiegelnde Straßenschilder die gleiche Aufmerksamkeit wie Markenschriftzüge oder sich spiegelnde Autos. Bei der Serie „Garten“ geht die Kamera mit dem Auge einen Zaun entlang und registriert die minimalen Veränderungen von Motiv zu Motiv, von Garten zu Garten. In einer Art Kamerafahrt präsentiert uns Annette Kisling eine Aneinanderreihung von Schrebergärten in der nahen Umgebung der niederländischen Stadt Rotterdam. Immer aus der gleichen Perspektive und mit demselben Abstand zum Zaun fotografiert.

Stefan Ripplinger bezeichnet die Fotografien von Kisling als Filmbilder,  die Teil einer Sequenz sind und schreibt dazu:
„Es war gerade die Sequenz, die uns verführt hat, aus vielleicht gar nicht zusammengehörenden Stücken einen vollständigen Raum ergänzen zu wollen. Es ist die Sequenz, die an Schwenks und Fahrten und damit an die Suchläufe der Orientierung erinnert, mit der die Filmkamera den Raum abtastet. Aber je mehr wir uns umsehen, desto weniger kennen wir uns aus.“(Stefan Ripplinger) 2

Die Werke und Sequenzen der Künstlerin sind keine montierten Collagen. Es sind keine Portraits von Orten, wie in einem Reiseführer oder Bildband.  Annette Kisling tastet Ihre Kameraobjekte ab, untersucht sie, entwickelt Typologien in ihren Serien, wo Muster visueller Zusammengehörigkeit und Variationen von Orten, die ähnlich aussehen, entdeckt werden können. Genau wie Nina Lola Bachhuber 3 ist Kisling an den Oberflächen der Erscheinung interessiert. Die Abwesenheit von Menschen, die Umformulierung in Schwarzweiß und Grautöne, die abgedämpfte Darstellung lassen das Wahrgenommene als flächige Kompositionen erscheinen. Mit ihrer speziellen Sensibilität für Orte von signifikanter Mittelmäßigkeit erfindet Annette Kisling eine halb realistisch und halb artifizielle Bildwelt, die in Bildserien zu einer individuellen Soziologie der Gegenstände verdichtet wird.

Kerstin Niemann

1 Stefan Ripplinger. In: Annette Kisling, Quartier, The Greenbox Kunst Editionen, 2007, S. 75

2 Stefan Ripplinger. In: Annette Kisling, Quartier, The Greenbox Kunst Editionen, 2007, S. 74
3 Künstlerin der parallel laufenden Einzelausstellung im Kunstverein Glückstadt.

Weitere Termine zu den beiden Einzelausstellungen:29.8., 15 Uhr
Künstlergespräch mit Annette Kisling.11.9., 20 Uhr
Kurzfilmabend # 11 mit Franz Winzentsen im Rahmen der Kulturnacht in Glückstadt.01.10., 20 Uhr
Kurzfilmabend # 12Die zwei Einzelausstellungen werden gefördert von der Volksbank Elmshorn und vom Ministerium für Bildung und Kultur in Kiel.Vielen Dank an:
Nina Lola Bachhuber, Annette Kisling, Galerie Heinz-Martin Weigand, Galerie Kamm, J. J. Augustin Verlag GmbH in Glückstadt, Eric de Haas und Katharina Thielicke.Konzeption: Christiane Opitz und Kerstin Niemann
Organisation und Durchführung: Kerstin Niemann

8. August – 10. Oktober 2010
Donnerstag bis Sonntag von 13.00 – 17.00 Uhr  

Die zwei Einzelausstellungen werden gefördert von der Volksbank Elmshorn und vomMinisterium für Bildung und Kultur in Kiel.